James
Huckleberry Finn und der Sklave Jim sind Freunde. Was Huck und die anderen Weißen nicht wissen: Jim hat sich Bildung angeeignet und er und die anderen Schwarzen sprechen eine gepflegtere Sprache als viele Weiße. Als Jim erfährt, dass er und seine Familie verkauft werden sollen flieht er auf eine Insel im Mississippi. Dort trifft er auf Huck, der sich vor seinem ungeliebten Vater geflüchtet hat. Gemeinsam machen sich die Beiden auf den Weg mit Floß und Boot auf dem Fluss. Unterwegs treffen sie auf unterschiedlichste Menschen und kommen in gefährliche Situationen.
Jim und Huck Finn sind ein ungleiches Paar. Aus unterschiedlichen Gründen landen sie auf einer Insel im Mississippi. Sie stellen fest, dass sie in ihrer Einsamkeit gut harmonieren. Jim muss sich immer vorsehen, dass er sich nicht verplappert. Dennoch freut er sich, wenn Huck ihn als Freund bezeichnet. Gemeinsam müssen sie mit den schmalen Ressourcen der Insel zurechtkommen. Und später auf dem Weg auf dem Fluss begegnen sie Menschen, die ihnen nicht immer wohlgesinnt sind. Und immer müssen Jim und Huck so tun als sei Huck der Herr und Jim sein Eigentum.
Die Abenteuer des Huckleberry Finn sind hier nicht der Hauptaspekt. Vielmehr geht es um den Sklaven Jim, der wie viele Sklaven sein gebildetes Wesen verbirgt, damit die Weißen nicht merken, dass er ihnen in nichts nachsteht. Eher im Gegenteil, Jim hat eine größere Bildung und erst recht eine größere menschliche Bildung. Huck ist dabei unvoreingenommener als viele seiner Zeitgenossen. Man ist schon sehr auf Jims Seite, wenn er bestürzt ist als er erfährt, dass er verkauft werden soll. Es ist nicht sicher, dass er und seine Familie zusammenbleiben können. Damit offenbart sich ein großer Teil der Tragik des Sklavenlebens. Nicht zu reden von der schweren Arbeit und der Dreistigkeit, mit der sich die Besitzer auch körperliche Züchtigungen herausnehmen. Mit seiner anderen Perspektive hält der Autor einem einen Spiegel vor. Man sollte nie so vermessen sein, sich selbst über andere zu stellen. Gelungen ist auch wie sich der Autor im Rahmen von Hucks Geschichte bewegt. Eine herausragende neue Interpretation eines Klassikers, die besser in die heutige Zeit passt.
4,5 Sterne
Auch wenn man den Klassiker „Die Abenteuer von Huckleberry Finn“, der von dem Amerikaner Mark Twain geschrieben und erstmalig 1884 veröffentlicht wurde, nicht gelesen hat, ist die Handlung dieses Werks dennoch in Grundzügen bekannt: Huck Finn, ein weißer Junge und der Sklave Jim erleben Abenteuer auf dem Mississippi, nachdem sie von zuhause weglaufen mussten. Der Roman wird dabei aus der Perspektive des jungen Weißen erzählt.
Dass man diesen Klassiker auch anders erzählen kann, beweist Percival Everett in seinem Roman „James“. Darin lässt er die altbekannte Geschichte nun aus dem Blickwinkel des Sklaven Jim erzählen. War Jim bei Mark Twain einer der Nebencharaktere, lässt Everett ihn in seinem Roman zum Protagonisten James aufsteigen.
Von der ersten Seite ist klar, dass die Beschreibung der Schwarzen Figuren sich bei Everett doch drastisch von Twain unterscheiden. Bediente Twain aus heutiger Sicht die Klischees der damaligen Zeit – man darf dabei jedoch nicht außer Acht lassen, dass Twain in seinem Werk Kritik an der amerikanischen Gesellschaft und den rassistischen Vorurteilen seiner Zeit übte -, stellt Everett die Schwarzen in diesem Roman als ganz anderes Kaliber dar: Dass die Sklaven sich im Umgang mit Weißen in einer absurd unterwürfigen Weise präsentieren, ungebildet und primitiv erscheinen, ist bei Everett lediglich Schauspielerei und ein Zeichen ihrer Cleverness im Umgang mit den Weißen. In Everetts Geschichte präsentieren sich die Schwarzen untereinander gebildet, kommunikativ und selbstbewusst, haben sogar eine eigene Sprache zur Kommunikation mit dem Weißen entwickelt, um ihn zu täuschen. Der Weiße fühlt sich dabei in dem Gefühl seiner Überlegenheit bestätigt und der Schwarze kann relativ unbeschadet leben, in dem er durch diese Täuschung das Risiko, misshandelt oder getötet zu werden, reduziert.
Durch dieses veränderte Bild der Schwarzen bekommt die Geschichte des bekannten Klassikers einen anderen Anstrich. Aus dem „dummen und einfach gestrickten“ Sklaven Jim wird bei Everett ein James, der sich zwar dumm stellt, wenn es die Situation erfordert, der sich aber dem Leser gegenüber als ein selbstbewusster, gebildeter und verantwortungsvoller Mann präsentiert, der das Herz auf dem rechten Fleck hat und diejenigen schützen will, die ihm wichtig sind. In erster Linie ist dies seine Familie, die er bei seiner Flucht zurücklassen muss und jetzt aus der Sklaverei befreien möchte, um mit ihnen ein neues Leben in Freiheit zu beginnen. Doch bis dahin ist es ein weiter Weg.
Percival Everett erzählt seine Version des Klassikers in kurzen Kapiteln als eine Art Road Movie, wobei es eher ein River Movie ist, denn während der Flucht von James und Huck Finn geht es den Mississippi rauf und runter, mit Stopps in den umliegenden Orten, in denen das ungleiche Paar den merkwürdigsten Gestalten begegnet und in die verrücktesten Situationen gerät. Diese merkwürdigen Begegnungen sorgen zwar für Komik in diesem Roman, machen ihn jedoch keineswegs zu einer Posse, in der ein Kalauer den nächsten jagt. Ganz im Gegenteil! Für Tiefgründigkeit sorgt das Thema „Rassismus“, das fast in keinem Moment in dieser Geschichte unberücksichtigt bleibt und unter den unterschiedlichsten Aspekten beleuchtet wird. Aus der Geschichte heraus leiten sich somit Gedanken ab, welche die Vereinbarkeit von Sklaverei und Rassismus mit religiösen, philosophischen und moralischen Grundsätzen hinterfragen.
Fazit:
In dem Percival Everett den bekannten Klassiker aus der Perspektive des Sklaven James, einer ursprünglichen Nebenfigur, erzählen lässt, gibt er der Geschichte einen neuen und zeitgenössischen Anstrich. Inhaltlich hält sich Everett sehr dicht an der Vorlage, doch durch den Perspektivwechsel macht Everett die altbekannte Geschichte zu einem Angriff auf den vorherrschenden Rassismus in unserer Zeit. Großes Erzählkino!
©Renie
Als der Sklave Jim nach New Orleans verkauft werden soll, flieht er am Mississippi entlang in Richtung Norden. Mit dabei ist der weiße Junge Huck, und das ungleiche Gespann stolpert schon bald von einem Abenteuer ins nächste.
Wer Huckleberry Finn gelesen hat, der erkennt schon bald, dass sich „James“ grundsätzlich an den Handlungen im Original orientiert und die Abenteuer von Huck und Jim eben „nur“ aus anderer Perspektive, nämlich der von Jim, erzählt. Mir hat das wirklich gut gefallen, da es sich zum einen um eine bekannte Geschichte und auch die entsprechende Atmosphäre der Zeit am Mississippi handelt, und man als Leser zum anderen eine völlig neue und auch unerwartete Perspektive erfährt – nämlich die eines entflohenen Sklaven, der im Geheimen äußerst intelligent und gebildet ist.
Ich fand die Umsetzung sehr gelungen und beeindruckend, und obwohl es in der Übersetzung sprachlich doch zunächst etwas gewöhnungsbedürftig ist, fand ich den gewählten Weg des Übersetzers eine gelungene Lösung.
Insgesamt eine wirklich eindrucksvolle Neuerzählung des Klassikers, die den (Abenteuer-)Charakter des Originals weiter beibehält, aber der Geschichte noch eine weitere Ebene hinzufügt. Klare Leseempfehlung!
Mark Twains Abenteuer um Huckleberry Finn sind wohl fast jedem ein Begriff. Hier in "James" erzählt der Autor Percival Everett die Geschichte aus Sicht des Schwarzen Jim neu.
Vieles ist stark ans Original angelehnt, aber es wirkt natürlich trotzdem ganz anders, eben weil die Perspektive eine ganz andere ist.
Durch die Augen des Schwarzen Jim, der sich selbst James nennt, wird auf viele Ereignisse so ein ganz anderes Licht geworfen. Der Autor macht klar, dass die Schwarzen damals ebenso intelligent waren wie die Weißen, womit er natürlich völlig recht hat. Doch durch die Sklaverei verschleierten sie ihre Intelligenz, weil sie den Weißen das Gefühl geben wollten überlegen zu sein, damit die Peitsche nicht so schnell geschwungen wird. Jim kann lesen, und spricht unter seinesgleichen wie jeder andere. Er kennt Personen wie John Locke, und durchschaut das System, doch was soll er dagegen schon ausrichten? Als er verkauft werden soll, flieht er und der bekannte Strudel wird in Gang gesetzt. Eine teilweise sehr lustige und abenteuerliche Reise beginnt, in der Jim bald gemeinsam mit Huck Finn die berühmten Abenteuer bestreitet.
Der Autor Percival Everett ist selbst schwarz, und man kann verstehen, dass er sich auf die Art vielleicht einfach mal Luft machen möchte. Er prangert allerdings in seinem Werk die Zustände gar nicht direkt an, er erzählt einfach.
Während des Lesens habe ich mich allerdings oft gefragt, warum er dazu eine bestehende Geschichte umschreibt, und sich nicht eine eigene fiktive Geschichte ausdenkt, um diese Missstände auf eben diese Art zu hinterfragen?
Mir hat die Idee dennoch gefallen, denn ich konnte mich aus meiner Jugend noch einigen Schabernack aus diesen Abenteuern erinnern. Ein paar Änderungen gibt es auch, die der Geschichte eine besondere Wendung geben. Die Botschaft, ist nicht neu, aber so verpackt, in diesem umgekehrten Klassiker, doch schon besonders und originell. Ein Roman, der sicher einige begeistern wird, egal ob sie Mark Twains Version kennen oder nicht.
Percival Everett ist einer der renommiertesten schwarzen Schriftsteller der USA. Er hat über dreißig Bücher verfasst, darunter dreiundzwanzig Romane, von denen bisher nur wenige ins Deutsche übersetzt wurden. Doch spätestens seit seinem letzten Buch „ Die Bäume“ ist er auch bei uns mehr als ein Geheimtipp.
Mit dem Roman „ James“ ist er ein Wagnis eingegangen. Hat er doch einen Klassiker der amerikanischen Literatur, ja der Weltliteratur, genommen und seinen Fokus auf eine andere Figur gerichtet.
Bei Mark Twains „ Die Abenteuer des Huckleberry Finn“, 1884 erstmals erschienen, spielt der Sklave Jim eine wesentliche Rolle . Everett nennt ihn nun „ James“ und macht ihn zur Hauptfigur seines Romans. Und zeigt uns so durch dessen Perspektive, wie anders sich hier die Geschichte liest.
Anfangs ist Everett noch sehr nah am Original. Jim und Huck treffen sich auf einer Insel im Mississippi. Beide sind hierher geflohen, Huck vor seinem gewalttätigen Vater und Jim, weil er verkauft werden soll. Mit einem Floß versuchen sie Richtung Süden zu kommen, in einen jener Staaten, in denen die Sklaverei schon abgeschafft worden ist. Dabei erleben sie viele gefährliche Situationen und treffen auf einige Gauner und Betrüger. Doch was sich bei Twain als vergnügliches Abenteuer liest, bekommt bei Everett, bei allem Witz, den der Roman hat, eine bittere, ernste Note. Denn für James ist das alles kein Spiel, sondern lebensbedrohend.
Wenn sich die Wege der beiden ungleichen Flüchtenden trennen, gibt das Everett die Möglichkeit, völlig neue Episoden dieser Geschichte hinzuzufügen. James wird Teil einer Minstrel-Show, wo er zwischen lauter schwarz geschminkten Sängern auftritt; er wird verkauft und muss in einem Sägewerk schuften. Dabei muss er ständig um sein Leben fürchten. Hier zeigt Everett das ganze Ausmaß und die Brutalität des Rassismus und erspart uns dabei keine Grausamkeit. So wird z. B. ein Sklave, der James einen Bleistiftstummel zukommen lässt, erst gefoltert, dann gelyncht.
Schon von Beginn an aber ist die Figur Jim/ James anders, wesentlich komplexer angelegt. Das zeigt sich schon in der Eingangsszene. Wie bei Twain wird Jim hier Opfer eines Streiches von Tom und Huck. Doch bei Everett durchschaut der Sklave das Spiel und stellt sich nur dumm, denn „ Es lohnt sich immer, Weißen zu geben, was sie wollen,…“
So ist James höchst gebildet, hat in Richter Thatchers Bibliothek die großen Philosophen studiert und führt in seinen Träumen Diskussionen mit Voltaire und Locke. Dabei entlarvt er sie als nicht die großen Freiheitsdenker, sondern als Kinder ihrer Zeit.
Auch lässt Everett seinen James zweisprachig auftreten. Unter seinesgleichen sprechen die Schwarzen ein gepflegtes Englisch. Erst in der Begegnung mit Weißen verfallen sie in ihren Südstaatenslang. „ Die Weißen erwarten, dass wir auf eine bestimmte Weise klingen, und es kann nur nützlich sein, sie nicht zu enttäuschen…. Wenn sie sich unterlegen fühlen, haben nur wir darunter zu leiden.“ Da ist es nur folgerichtig, wenn James Kinder unterrichtet, wie sie mit Weißen zu sprechen haben. „ Sie genießen es, euch zu verbessern und zu glauben, dass ihr dumm seid.“ Hiermit entlarvt der Autor gar nicht subtil die Dummheit der Sklavenhaltergesellschaft. Und gleichzeitig wirft er einen Blick auf unsere Gegenwart, in denen schwarze Eltern ihren Kindern Verhaltensregeln im Umgang mit weißen Polizisten auf den Weg geben.
Everett verweist nicht nur auf die subversive Kraft des Lesens und von Bildung, sondern lässt James seine Geschichte aufschreiben. „ Mit meinem Bleistift schrieb ich mich ins Dasein. Ich schrieb mich ins Hier.“
James‘ Geschichte steht stellvertretend für die vieler. Es ist wichtig und notwendig, die Geschichte der Schwarzen im ( literarischen ) Gedächtnis zu behalten, deshalb schreibt James, deshalb schreibt Everett.
Ein weiterer Unterschied zu Twain liegt in der zeitlichen Verortung. Spielte „ Huckleberry Finn“ in den 1840er Jahren, so verlegt Everett seinen „ James“ ins Jahr 1861, rund um den Beginn des amerikanischen Bürgerkriegs. Aber auch hier macht sich die Hauptfigur keine Illusionen. „ Eins wusste ich: Was auch immer zu diesem Krieg geführt hatte, die Befreiung der Sklaven war ein Nebenmotiv und würde ein Nebenergebnis sein.“
Am Ende sieht James keine andere Lösung, als sich mit Gewalt sein Recht zu verschaffen.
Im Verlaufe der Handlung wird Jim zu seinem eigenen Herr; er legt seinen alten Sklavennamen ab und nennt sich fortan James. „ Mein Name gehörte endlich mir.“
Mit viel Phantasie und großer Sprachmacht hat Percival Everett einen Roman geschaffen, der zwar in der Vergangenheit spielt, aber aktuelle Debatten aufgreift und auf die Gegenwart verweist.
Lobenswert ist die Leistung des Übersetzers Nikolaus Stingl. Denn es war kein Leichtes, die spezielle Sprache, derer sich James bedient, in ein glaubwürdiges Deutsch zu transportieren. Diese Aufgabe hat er bravourös gemeistert.
Zwei Fragen stellen sich manche bei diesem Buch:
Die eine ist die nach der Legitimation. Darf Percival Everett das? Ja, denn Literatur darf alles. Außerdem ging es dem Autor nicht darum, Mark Twain zu demontieren. Mark Twain war kein Rassist, aber natürlich ein Kind seiner Zeit. Wie Everett in seiner Danksagung schreibt, sei der Roman eine Referenz vor Mark Twain. „ Sein Humor und seine Menschlichkeit haben mich beeinflusst, lange bevor ich Schriftsteller wurde.“
Die zweite Frage ist, ob es überhaupt eine Neu- Erzählung dieses Klassiker braucht? Ja, denn es ist ein Buch für Schwarze und weiße Leser gleichermaßen. Den einen bietet er als Identifikationsfigur statt eines dümmlich- naiven Sklaven einen intelligenten, mutigen und selbstbewussten Mann, der für seine Freiheit und die seiner Familie kämpft und die anderen lässt er miterleben, wie sich die Welt einem Schwarzen zeigt.
„ James ist ein kluges, ein wichtiges Buch; eine fesselnde und bedrückende Lektüre.
Der Klappentext sagt es indirekt schon: der Roman lehnt sich an „Die Abenteuer des Huckleberry Finn“ an, eine Ikone der amerikanischen Literatur. Protagonist ist aber nicht der weiße Junge Huck, sondern sein schwarzer Begleiter, der Sklave Jim. Die Perspektive ändert sich also, und der veränderte Blickwinkel schafft einen gänzlich anderen Roman.
Everett zertrümmert das bekannte Vorbild in seine Einzelteile, um diese Einzelteile dann neu nach seinen eigenen Kriterien zusammenzusetzen. Das ist kein Akt der Missachtung, sondern eher eine Referenz vor dem großen Erzähler Marc Twain, zugleich aber auch eine Art Korrektur.
"Mein Name gehörte endlich mir!" Zentrales Thema ist natürlich der Blickwinkel eines rechtlosen Schwarzen auf eine weiße Geschichte, aber das eigentliche Thema ist die Entwicklung von Identität gegen alle Widerstände, die die Gesellschaft, die Erwartungen und die pure Notwendigkeit dem schwarzen Menschen auferlegen. Everett verweist hier immer auf die Bedeutung der Bildung, die er im Roman mit dem Symbol des Bleistifts deutlich macht. Dieser Bleistift wurde mit dem qualvollen Tod eines Menschen bezahlt, und umso wichtiger wird er für Jim. Er schreibt und dokumentiert damit die Ereignisse; das Schreiben hat darüber hinaus noch den Wert der ständigen Selbstvergewisserung. Bildung und Wissen sind es, mit denen Jim das Funktionieren der Verhältnisse erkennt, in die er hineingeboren wurde. Und da er das Funktionieren durchschaut, kann er überleben. Pointiert gesagt: Bildung ermöglicht Emanzipation.
Diesen Aspekt der Bildung zeigt Everett mit der Sprache. Jim spricht wie alle Sklaven in Everetts Buch die „weiße“ Standardsprache. Nur in Anwesenheit von Weißen fallen sie in ihren Slang, weil der Unterwerfung signalisiert - und genau das erwarten die Weißen. Ein bemerkenswerter Kunstgriff Everetts, mit dem er weiße Erwartungen ad absurdum führt!
Von diesem zentralen Thema aus greift Everett weitere Themen auf wie die Mitverantwortung der Mitläufer, die die Sklavenhaltergesellschaft zwar verbal ablehnen, aber dennoch von ihren Vorteilen profitieren.
Dieser Blick durch die schwarze Brille ist nicht ganz frei von Unglaubwürdigkeiten wie z. B. der Lektüre der aufgeklärten Philosophen. Diese Unglaubwürdigkeiten nimmt man als Leser aber gerne in Kauf, weil die weißen Denker bei diesem Blick durch die schwarze Brille mit ihrem Gerede von Freiheit und Menschenwürde doch sehr gerupft aussehen. Und nur so kann Everett Jims Prozess der Selbstfindung erzählen.
Diese andere Geschichte Everetts erzählt von einem Mann, der in ständiger Angst lebt: um sich selber, um seine kleine Familie. Er beneidet den weißen Jungen Huck, der nicht in dieser ständigen Angst vor dem Gelynchtwerden leben darf. Dieser Jim ist ein anderer als Marc Twains Jim, und auch seine Geschichte ist eine andere. In Jims neuer Geschichte werden Fremdzuschreibungen und Erwartungshaltungen offengelegt. Damit entwickelt das Buch einen starken appellativen und aktuellen Charakter.
Ein Roman, der seine Leser nachdenklich zurücklässt.
Anlehnung an den Jugendbuch-Klassiker 'Huckleberry Finn', andere Perspektive, anderer Schwerpunkt – vom Abenteuer zur Sklaverei-Kritik
Gleich vorweg: man muss Huckleberry Finn nicht gelesen haben, aber es ist natürlich interessant, zu vergleichen. 'James' funktioniert allerdings aus sich heraus, wie es bei einem Roman auch sein sollte.
Everett nimmt eine entscheidende Änderung vor: er erzählt die Geschichte aus der Sicht des Sklaven Jim und der ist ein ganz anderer als beim Ursprungswerk, ein hochintelligenter gebildeter Schwarzer, auf den der Name James besser passt. Er hat sich heimlich Lesen beigebracht und hält sich immer wieder in der Bibliothek des Richters Thatcher auf, wenn der nicht da ist. Dass er Werke von Rousseau oder Locke liest, mag ein wenig übertrieben erscheinen. Auffällig ist außerdem, dass nicht nur seine, sondern auch die Sprache der anderen Sklaven normales amerikanisches Englisch ist, wenn sie unter sich sind, aber sobald ein Weißer zuhört, benutzen sie den von ihnen erwarteten Slang, den der Übersetzer Nikolaus Stingl sehr verständlich und gut lesbar übersetzt hat. Dazu kommt, dass James ihnen Strategien beibringt, wie man sich den Weißen gegenüber am besten verhält, damit sie keinen Verdacht schöpfen und ihr Überlegenheitsgefühl behalten.
'Es lohnt sich immer, Weißen zu geben, was sie wollen' (11).
Als Jim verkauft werden soll und Huckleberry Finn vor seinem brutalen Vater flüchten muss, machen sich die beiden auf den Weg und fahren mit einem Floß den Mississippi abwärts, wobei sie die bekannten Abenteuer erleben, allerdings ganz aus der Sicht von James erzählt und mit kritischen Sätzen hauptsächlich zur Sklaverei, unterlegt. Lustig sind diese Vorkommnisse überhaupt nicht und zeigen noch einmal die ganzen Grausamkeiten der Sklaverei und die Menschen verachtende Einstellung Schwarzen gegenüber.
Diesen aufzuarbeitenden Teil der amerikanischen Geschichte noch einmal in den Fokus zu rücken, ist Thema des Buches, wobei vieles eine Rolle spielt: Wahrheit und Lüge, die Minstrelshows, wo man sich über Schwarze lustig macht, Vergewaltigungen und 'Zuchtfarmen', die Sezessionskriege, wo es nur vordergründig um die Befreiung der Sklaven ging. Eine wichtige Rolle spielen das Lesen und Schreiben (James schreibt seine Geschichte auf), was die Bedeutung der Bildung noch einmal betont.
Ein bisschen klischeehaft fand ich die Äußerungen rund um Freiheit und Identität. James erklärt Huck: 'Du kannst sein, was du willst.' (274) - 'Lebe einfach. Du kannst frei sein, wenn du dich dafür entscheidest. Du kannst weiß sein, wenn du dich dafür entscheidest.' (276). Ich glaube nicht, dass es so einfach ist.
Im weiteren Fortgang löst sich Everett von der Huckleberry-Finn-Geschichte und lässt James seine eigene Geschichte erleben: seine Familie, seine Rache, seine Freiheit. Am Ende kann sich der Leser Gedanken darüber machen, was von Selbstjustiz zu halten ist - 'War es böse, Böses zu töten?' (308), ob Gerechtigkeit möglich gewesen wäre (sicher nicht) und wie es um die Freiheit steht.
Zumindest vom Namen her kennt so ziemlich jeder und jede „Die Abenteuer des Huckleberry Finn“ von Mark Twain. Dort erlebt der Halbwaise Huck zusammen mit dem entlaufenen Sklaven Jim so einige Abenteuer entlang des Mississippi Mitte des 19. Jahrhunderts. Percival Everett schnappt sich nun die Romanvorlage von Twain, den er sehr verehrt (siehe Danksagung: „Sein [Mark Twains] Humor und seine Menschlichkeit haben mich beeinflusst, lange bevor ich Schriftsteller wurde.“), und erweitert diesen Klassiker um den Blickwinkel des Sklaven Jim.
Everett löst dies sehr geschickt, indem er die Passagen auserzählt bzw. hinzuerfindet, in denen im Originaltext Huck und Jim voneinander getrennt sind. Erfährt man bei Twain ausschließlich, was Huck in diesen Episoden passiert, ist es bei Everett umgekehrt. Wir begleiten die gesamte Zeit über Jim und mit zunehmenden Verlauf weicht Everetts Roman sowie Everetts Jim auch mehr und mehr vom Originaltext ab. Wir werfen quasi einen Blick hinter die Kulissen von Twains Roman, denn Jim erschien damals eher eine Kulisse für Hucks Abenteuer zu sein. Nun spielt er die Hauptrolle und somit erfahren sehr viel über die Lebensrealität von Sklaven in der damaligen Zeit.
Hier macht sich Everett, wie auch schon in „Die Bäume“, das Stilmittel der phantastischen Elemente zunutze. Denn Jim kann nicht nur lesen und schreiben, was damals nur ganz, ganz selten überhaupt der Fall war, sondern er liest auch noch aus der Bibliothek von Richter Thatcher Bücher von Voilaire und anderen Philosophen und Gesellschafts-/Staatstheoretikern. Jim ist hochgebildet. Überhaupt erfährt man schon auf den ersten Seiten, dass alle Sklaven in diesem Roman „zweisprachig“ aufwachsen. Sie können ganz regulär Standardenglisch sprechen, was sie allerdings nur tun, wenn sie sich untereinander unterhalten, und wenn sie mit Weißen sprechen, nutzen sie eine vereinfachte und grammatikalisch falsche „Sklavensprache“. Denn die Weißen sollen sich überlegen fühlen. So heißt es im Buch „Es lohnt sich immer, Weißen zu geben, was sie wollen“, denn „je besser sie sich fühlen, desto sicherer sind wir.“ Eine Feststellung, die noch bis in die Gegenwart hineinreicht, wenn Schwarze Eltern ihren Kindern beibringen, wie sie sich weißen Polizisten gegenüber verhalten sollen, damit sie ja nicht aus Versehen bei einer Polizeikontrolle umgebracht werden. Und mit diesem Verweis in unsere heutige Zeit ist gleich die Tiefgründigkeit und Doppeldeutigkeit des vorliegenden Romans skizziert. Everett hat definitiv keinen einfachen historischen Roman geschrieben, nein es handelt sich meines Erachtens um Gegenwartsliteratur, die das historische Setting nutzt, um nicht nur die lebensbedrohliche Realität für Schwarze in der Vergangenheit aufzuzeigen, sondern auch immer wieder Querverweise in die Gegenwart zu geben und weiterhin bestehende Probleme anzuprangern.
Hatte ich zunächst noch Probleme mit dem Tempo, der Struktur des Romans, der nun einmal stark an den Abenteuerroman angelehnt ist, waren mir die Episoden zu schnell erzählt und wechselten von einer Szene in die nächste hopplahopp. So ergriff mich „James“ im späteren Verlauf immer mehr. Ich habe den Roman zu Beginn als sarkastisch und beißend empfunden, nie lustig/witzig/amüsant, wie es bei Twain der Fall war. Später wird er immer ernster und tonnenschwer, indem er immer stärker von "Die Abenteuer des Huckleberry Finn" abweicht und - nicht nur - in die (Überlebens-)Realität von James eintaucht. Hier bleibt der Autor vom Stil her der Vorlage treu, es sind meist sehr kurze, "abenteuerliche" Sequenzen, die schnell wechseln. Das ist grundsätzlich ein Stil der mir nicht gut gefällt, aber ich kann nachvollziehen, warum sich hier Everett anpasst an Twains Vorlage. Umso stärker der Roman ein Eigenleben entwickelt und auch immer stärker der "Sklave Jim" zum "freien Mann James" wird, umso stärker hat der Roman mir gefallen. An einer Stelle sagt James zu Huck: „Das ist kein lustiges Abenteuer, Huck.“ als es um das Leben als Schwarzer geht. Und dieser Satz unterstreicht hervorragend nicht nur den Unterschied zwischen Twains und Everetts Werk sondern auch die Wichtigkeit von dieser literarischen Ergänzung Everetts zum Schlüsselwerk der US-amerikanischen Literatur.
Mir hat der Roman als Ganzes sehr gut gefallen. Das liegt vor allem an Everetts Ideen, wie er das Thema Sprache, Intelligenz, Bildung und die damit einhergehende Gefahr für die Unterdrücker umgeht. Er zeigt auf, dass Schwarze eben nie per se "dumm" waren, sondern genauso intelligent (oder eben nicht), wie alle anderen Menschen auch. Gleichzeitig zeigt er, wie (überlebens)wichtig ein an die Unterdrückung angepasstes Verhalten für die damaligen Sklaven war.
Die Übersetzung von Nikolaus Stingl finde ich, besonders unter Betrachtung der „Sklavensprache“, „eine spezielle Ausprägung des Südstaatenenglisch, die im 19. Jahrhundert von Schwarzen gesprochen wurde und in Grammatik und Aussprache stark vom Standardenglisch abweicht“ (aus den Nachbemerkungen des Übersetzers), äußerst gelungen und auch dessen Nachbemerkungen erscheinen mir interessant und wichtig.
Somit handelt es sich hierbei um einen wichtigen Roman, der den Klassiker „Die Abenteuer des Huckleberry Finn“ von Mark Twain keinesfalls vollständig ersetzen will, sondern eine dringliche Ergänzung zu der bisherigen Charakterisierung und der Geschichte der Sklaven in den USA darstellt. Ein Roman, der definitiv eine Leseempfehlung von mir erhält, auch wenn er meines Erachtens an den Vorgänger „Die Bäume“ nicht heranreicht.
4/5 Sterne
Mark Twains bis in die Gegenwart hinein vielgelesener Roman „Die Abenteuer des Huckleberry Finn“ erschien 1884. Der Autor gilt als realistischer Chronist des amerikanischen Südwestens. Er selbst hat seine Jugend in Hannibal am Mississippi River verbracht, an dem weite Teile der Handlung angesiedelt sind, die von Ich-Erzähler Huck Finn berichtet werden. Es ist nicht erforderlich, diesen Klassiker aufzufrischen, um „James“ verstehen zu können. Wem die Vorlage aber bekannt ist, wird aus Parallelen wie Abweichungen eine eigene Deutung herausarbeiten können.
In „James“ ist der Sklave Jim der Erzähler, der mit Huck gemeinsam fliehen muss. Huck hat Angst vor seinem gewalttätigen Vater, Jim vor seinem angeblichen Verkauf. So begeben sich die beiden auf ein Floß und reisen den Mississippi abwärts. Auf der Fahrt geraten sie in allerlei Abenteuer und lernen verschiedenste Menschen kennen. Zunächst verläuft die Handlung analog zur Vorlage, doch als sich die beiden Protagonisten trennen müssen, schildert nur noch Jim seine Erlebnisse in einer von Rassismus durchsetzten, Sklaven haltenden weißen Welt. Während man Jim aus dem Original als naiven, unterwürfigen, manchmal auch hellsichtigen Sklaven kennt, erlebt man ihn im vorliegenden Roman völlig anders. Im Gegensatz zu seinem Urbild beherrscht Jim hier die englische Sprache, er kann (verbotenerweise) sogar lesen und schreiben. Um die weißen Massas nicht argwöhnisch zu machen, sprechen die Sklaven in deren Gegenwart ausschließlich in einer verwaschenen, unkorrekten und einfältigen Sprache. Dazu beherrschen sie einen eigens antrainierten Verhaltenskodex, um stete Untertänigkeit zu demonstrieren.
Jim, der sich selbst James nennt, ist gebildet, er kennt die liberalen Geistesgrößen seiner Zeit und verabscheut die Ungerechtigkeit eines Systems, das den Schwarzen die Menschenwürde aberkennt, sie quält und zu einer materiellen Sache degradiert. Wir lernen einen selbstbewussten, intelligenten Sklaven kennen, der am Ende der gesellschaftlichen Hierarchie den Weißen jederzeit als Sündenbock oder Zielscheibe dienen muss. Während ihrer gemeinsamen Reise begegnen Huck und Jim unzählige Beispiele für offenen oder versteckten Rassismus. Die Brutalität der Massas ist erschreckend, der Weg vom aktiven Sklavenhalter zum passiven Unterstützer des Systems ist nur ein schmaler Grat: „Ein Mann, der sich weigerte, Sklaven zu besitzen, jedoch nicht dagegen war, dass andere welche besaßen, war in meinen Augen immer noch ein Sklavenhalter.“ (S. 189) Als aufgeklärter Schwarzer fällt es Jim zunehmend schwer, die unfairen Regeln zu akzeptieren. Er träumt davon, seine Familie zurückzukaufen und sich irgendwo als freier Mann niederzulassen.
Die einzelnen Episoden lesen sich spannend, man trifft viele Figuren aus „Die Abenteuer des Huckleberry Finn“ wieder, es treten aber auch neue, facettenreiche hinzu. Everett bemüht sich, nicht nur Stereotype zu bedienen. Zahlreiche pointierte, kurzweilige Dialoge transportieren die Unbilden der Zeit, in denen ein Schwarzer für einen falschen Blick gehängt oder für den Diebstahl eines Bleistifts zu Tode gepeitscht werden kann. Man darf zwar dann und wann auch lachen, jedoch bleibt das Gelächter oft im Halse stecken, weil der Ernst der Lage hinter aller Ironie zu deutlich wird. In der zweiten Hälfte des Romans emanzipiert sich Everett immer mehr von der klassischen Vorlage. Jim wird selbständiger, wächst aus der Rolle des Unterdrückten heraus, so dass Täter- und Opferrolle teilweise verkehrt werden. Bewusst hat der Autor das zeitliche Ende des Romans an den Anfang der Sezessionskriege verlegt. Das Ende verläuft krass und bietet Diskussionspotential, wie man es aus Everetts Roman „Die Bäume“ kennt.
Ich habe den Roman sehr gerne gelesen. Ich verstehe ihn als Ergänzung um eine bedeutsame Perspektive. „James“ ist kein Jugendbuch und kein historischer Roman. Für mich ist er ein Buch gegen das Vergessen. Die Verschleppung und Versklavung der schwarzen afrikanischen Bevölkerung stellt ein riesengroßes Unrecht dar, das meines Erachtens noch längst nicht ausreichend aufgearbeitet wurde. Literatur kann einen Teil dazu beitragen, dass die Wurzeln des amerikanischen Rassismus immer wieder neu beleuchtet werden. Wer den Text aufmerksam verfolgt, findet viele Bezüge zum gegenwärtigen, alltäglichen Rassismus. Die Sklaverei mag abgeschafft sein, wahre Gleichberechtigung vor dem Gesetz, in der Gesellschaft oder am Arbeitsmarkt herrscht in den USA jedoch längst noch nicht. Insofern halte ich „James“ für ein wichtiges zeitgenössisches Werk, das nicht die Intention hat, den Klassiker von Mark Twain zu überschreiben, sondern ihm einen weiteren Blickwinkel hinzuzufügen. Hervorzuheben ist die famose Übersetzung von Nikolaus Stingl, der den Sklaven ein glaubwürdiges deutsches Sprachidiom geschenkt hat.
Leseempfehlung!
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Everett hat sich den Schlüsselroman der amerikanischen Literatur, "Die Abenteuer des Huckleberry Finn" von Mark Twain, genommen und umgestaltet. Nah am Original durchläuft er mit seinem Roman Hucks Erlebnisse am und auf dem Mississippi, doch diesesmal lässt er den Sklaven Jim erzählen und Huck schlüpft in die Rolle des zeitweisen Wegbegleiters.
Aber Jim ist gebildet, er kann nicht nur lesen und schreiben, eine Fähigkeit, die, sollte sie von den Weißen entdeckt werden, den sicheren Tod bedeuten würde, sondern kennt auch die Ansichten und Überlegungen der toten Staatsmänner und Philosophen. Sie erscheinen ihm im Traum, wo er mit ihnen Fachgespräche führt, in einer Sprache, die das Bildungsniveau von manchem Weißen übertrifft. Seinen Landsleuten bringt er ebenfalls das Lesen bei, doch sobald ein Weißer auftaucht, spielt er den tumben Sklaven, der nichts versteht und seinem Herren niemals in die Augen schaut. Hier ist ein dickes Lob für die Arbeit des Übersetzers Nikolaus Stingel angebracht, der ein praktisch zweisprachiges Buch ebenso in zwei verschiedene deutsche Sprachen übersetzen musste, dabei lesbar bleiben und den Aussagewert dabei nicht aus den Augen verlieren durfte. Gut gemacht!
Als Jim von Huck erfährt, dass er verkauft werden soll, flieht dieser Hals über Kopf auf eine Insel mitten im Fluß. Sein Plan ist es, den Norden zu erreichen, wo Sklaven frei sein können, dort Geld zu verdienen und seine Frau und seine kleine Tochter freizukaufen. Aber Huck ist auch geflohen. Er will Abenteuer erleben. Diese fatale Gleichzeitigkeit des Verschwindens eines Halbwaisen und eines Sklaven, veranlasst die Menschen zu glauben, dass Huck tot sei und Jim sein Mörder. Beide machen sich auf einem gestohlenen Kanu und einem Floß auf die Reise. Jim entwickelt eine seltsame Sorgepflicht für Huck. Auf dem Weg werden sie auseinandergerissen, finden sich wieder, nur um abermals in lebensgefährliche Bedrohungen zu geraten.
Anders als in dem Abenteuerroman von Twain, sieht sich Jim den realen Gefahren der Sklaverei ausgesetzt. In der Abwesenheit Hucks verliert er nicht nur seinen jugendlichen Bewunderer, dem er Stärke und Abgeklärtheit beweisen muss, sondern auch seinen weißen Spion und Kundschafter. Stattdessen führt ihm die Welt außerhalb seiner gewohnten Umgebung drastisch vor Augen, welche Abgründe die Unmenschlichkeit haben kann. Tod und Leid liegen auf dem Weg, ein gestohlener Bleistift ist Grund genug, seine Haut zu verlieren. Aber auch die Varianten des Schwarzseins, die Ambivalenzen der weißen Bevölkerung, Zusammenhalt, aber auch Illoyalität bestimmen Jims Verhalten.
Raffiniert baut Everett seine Fehlfarben in Twains Geschichte, die als Abenteuerroman aus einer anderen Perspektive, oder aber auch als Analyse gelesen werden kann. Jim wird zu James und damit wird ein Jugendroman erwachsen. Eine Art Fanfiktion mit philosphischen Tiefgang, eine Untermauerung eines Konflikts, den Twain angedeutet hat, Everett offen vorlegt und der Leser wünschenwerterweise verinnerlichen kann. Der Roman provoziert, aber wenn der Nebel des Ärgers verflogen ist, darf man sich genüsslich über die eigenen Vorurteile und Erwartungshaltungen beugen und sich fragen, warum der eigene Standpunkt so schwer zu überwinden ist.
Die Frage bleibt, ob man Twains Werk kennen sollte - so mancher Sprung in der Story würde sich erklären - ,oder ob es Lust auf die Erstlektüre des amerikanischen Literaturkanons macht. Mögen des Autors Aussagen mehrdeutig erscheinen, aber Everetts Reverenz an Mark Twain ist eindeutig.
Der Sklave Jim und sein Freund Huckleberry Finn haben so manche Kindheit in Form von Mark Twains Klassiker begleitet. Mit „James“ von Percival Everett liegt nun sozusagen die erwachsene Version vor, denn Jim besteht darauf, mit seinem vollen Namen angesprochen zu werden: „Ich bin James. […] Einfach nur James.“ Sinnbildlich ist damit Jims Prozess der Emanzipation, der - wenn man so will - Mannswerdung, der Übernahme der aktiven Verantwortung mit allen notwendigen Konsequenzen abgeschlossen und ein neues, freies Leben kann beginnen. So endet der Roman.
Zu Beginn folgt „James“ noch in weiten Teilen der Vorlage mit dem entscheidenden Unterschied, dass hier nicht die Perspektive von Huck, sondern eben von Jim eingenommen wird, sodass der personale Erzähler tiefe Einblicke in die Gedankenweilt Jims ermöglicht, einschließlich seiner Träume und Visionen. Diese ermöglichen dem Autor seine Erzählung zu kommentieren oder philosophische Bezüge herzustellen und dabei z.B. Seitenhiebe auf die Heuchelei der aufklärerischen Denker auszuteilen, deren Position zur Sklaverei häufig nicht ihren hehren Idealen entsprach.
Im Fortschreiten nimmt sich Everett immer mehr Freiheiten heraus, die schließlich in einem fulminanten und höchst spannenden Finale enden, in dem man den fatalistischen, zynischen und bisweilen mutlosen Jim nicht wiedererkennt.
Auch sprachlich ist der Roman interessant, da sich herausstellt, dass die Sklaven nur gegenüber ihren Besitzern in ihrem eigenartigen, etwas simpel wirkenden Dialekt sprechen, um die Weißen in dem Glauben zu lassen, dass Sklaven geistig weniger gewandt und auf jeden Fall ungebildet seien. Untereinander und in ihren Gedanken – die bekanntlich frei sind – sprechen sie jedoch wie jeder andere auch und verfügen zudem über einiges an Bildung, die sie sich heimlich und unter Lebensgefahr angeeignet haben. Dieser Umstand führt zu einigen humorvollen Szenen, was dem Original entspricht, das ebenfalls mit Wildwest-Klamauk vom Feinsten aufwartet.
James besteht am Ende nicht nur auf seinem Namen, sondern ermächtigt sich auch seiner Sprache, indem er sich nun weigert, sich zu verstellen. Dass er lesen und schreiben kann und seine Lebensgeschichte sogar eigenhändig zu Papier bringt, ist ein weiterer Schritt auf seinem Weg zu Freiheit und Eigenständigkeit. Überhaupt finden sich im Roman immer wieder Aussagen, die wie ein Kommentar zur überwältigenden Bedeutung von Bildung, Schrift, Schreiben, Lesen und Büchern wirken, und die entgegen der zuvor von Everett geäußerten Kritik nun doch sehr dem Denken der Aufklärung entsprechen.
Das Buch weckt nur zu Beginn nostalgische Kindheitserinnerungen, am Ende zeigt der Roman aber ein ganz anderes Gesicht und lässt den Leser nachdenklich zurück. Was ist die Botschaft Everetts? Vielleicht dass nur das eigene, mutige, lebensgefährliche und zuweilen wenig ruhmvolle Handeln zu individueller Freiheit führen kann. Dies kann man – so Everett – weder anderen Menschen noch gesellschaftlichen Bewegungen und auch nicht Gott überlassen.
Ein Roman, der Humor, Spannung und Philosophie vereint.
Kurzmeinung: Muss nicht sein!
Mit „James“, einer Überschreibung von Mark Twains „Huckleberry Finn“ will Percival Everett provozieren, vor allem in den USA, für die „Huckleberry Finn“ zusammen mit „Tom Sawyer“ eine heilige Kuh sein dürfte, zum nationalen Gedankengut gehörend und in vielen Kinderzimmern zahllose Kinderherzen erfreuend. So war der Roman Twains ursprünglich angelegt, als Abenteuerroman für Jugendliche, humorvoll, witzig, satirisch, durchaus mit sozialkritischem Ton.
Der Inhalt:
Eine Zeitlang folgt Everett der Vorlage Twains und läßt den Sklaven Jim/James mit Huck zusammen abhauen. Huck flieht vor seinem gewalttätigen Vater und Jim flieht, weil er glaubt, verkauft zu werden, dem will er mit seiner Flucht zuvorkommen.
Der Kommentar:
Doch James ähnelt in Nichts dem naiven gutmütigen Jim in Huckleberry Finn. Er ist ein Intellektueller mit Supermanntalent, er weiß alles, er kann alles, er ist einer, der die Geistesgrößen der Aufklärung versteht und zitiert; natürlich spricht hier nicht mehr der schwarze Sklave Jim-James aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, also noch vor den Sezessionskriegen (1861-1865), sondern Percival Everett himself. Er erläutert durch seine Figur hindurch den Humanismus: alle Menschen sind gleich. Das Anliegen ist verständlich. Aber warum schreibt Everett keinen eigenständigen Roman, was er sehr gut könnte, wie er hinlänglich bewiesen hat. Warum setzt er sich sozusagen auf den Klassiker von Mark Twain auf und setzt alles daran, dessen Geist zu verändern? Man fühlt den Elefanten im Raum. Den Rassismusvorwurf gegen Mark Twain. Da ändert auch ein lauwarmer Satz im Nachwort nichts daran.
Dazu schreibt David Hugendick schon 2011: „Obwohl er umfassend widerlegt ist, hält sich in literaturwissenschaftlichen Anstandsaufsätzen der Glaube, Twain sei ein Rassist gewesen. Er war ein Chronist. In seiner Fortsetzung zu Tom Sawyers Abenteuer nahm er sich besonders der Probleme der Sklaverei und des Rassismus an. Er tat es in besonderer Weise, indem er als erster auch die gesprochene Sprache der Südstaaten literarisch verarbeitete, ihre Grammatik und Soziolekte.“ (Zitat von David Hugendick, 6.1.2011/Zeitonline).
Sprachlich wird bei Everett aus dem Slang der Unterschicht, eine zaubermässig Doppelsprachigkeit: Babysprech mit den Weißen und Hochsprech mit den Schwarzen. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf.
Zurück zum Rassismusvorwurf: Für den latenten Rassismusvorwurf Everetts gegen Mark Twain spricht auch, dass er einige der liebenswürdigsten Figuren des Originals in ihr krasses Gegenteil verkehrt. Tante Polly und Miss Watson sind keine großzügigen Menschen mehr, die zwar in ihr zeitgeistiges Denken verstrickt, aber durch ihre Aufrichtigkeit und ihren Charakter schon darüber hinauszudenken imstande sind, sondern sie sind jetzt verkappte Rassisten, denen Everett die Maske abreißt. Auch Huck selber kann nur deshalb gut und anständig sein, weil er von Everett als Schwarzer deklariert und vereinbart wird.
Twains Jim ist, historisch korrekt, ungebildet, aber aufrichtig, er bedient sich des Slangs der Schwarzen, von Hochsprache kann nicht die Rede sein. Er und seine Leute sind den gesellschaftlichen Bedingungen seiner Zeit unterworfen, Unterdrückung, Folterung, Willkür.
Everett, so kann ich mir vorstellen, leugnet nicht die Geschichte per se, wehrt sich aber dagegen, dass sich das Bild des ausgelieferten Schwarzen in den weißen? Kinderköpfen festsetzt. Schwarze sollen nicht als Opfer dargestellt sein. Percival Everett schafft mit der Umformung von Jim zu James einen Supermann, der sich, wie Rambo, wenn nötig mit Gewalt wehrt.
Aber er übertreibt es: Mit der Passage, in der Everett James sagen läßt, die Schwarzen befänden sich im Krieg mit den Weißen und in der Everett Gewalt als Notwehr ausgibt und damit legitimiert, wörtlich: „Der Krieg dauert so lange, bis der Sieger sagt, dass er vorbei ist“, ist die Über-/Umschreibung von Mark Twains „Huckleberry Finn“ perfekt gemacht und aus einem Kinderbuchklassiker ist eine politische Kampfansage gegen tatsächliche oder auch nur vermeintliche (gleich gefühlte) weiße Superiorität in allen Spiel- und Denkarten geworden. So muss man den Roman in heutiger Zeit lesen.
Denn der Krieg ist dann vorbei, wenn die Schwarzen (und die Woken?) sagen, dass er vorbei ist. So steht es ja wörtlich im Roman. Und der Krieg ist nicht vorbei, weil unter anderem die Weltklassiker noch nicht aller (gefühlter) Rassismen bereinigt sind und noch nicht vollkommen umgeschrieben sind. Ich warte auf eine neue „Pippi Langstrumpf“, - denn selbstredend sei auch Astrid Lindgren nur eine verkappte Rassistin. Sagt die woke Ideologie. Wie wird sie aussehen die neue Pippi, mit Rasterlocken und Baströckchen? Oder unter der Bettdecke Habermas lesend, verschämt eingebunden in einem Micky-Mouseheft-Einband und Rappsongs singend? Kann sie nicht gleichzeitig noch eine taffe woke Feministin sein? Obwohl, Pippi zählt jasdurchaus unter Lindgren schon zu den modernen Feministinnen. Sie ist eine Führungskraft. Dann muss man eben Annika noch auf links bügeln, die gerne Kuchen bäckt und Anweisungen folgt.
Man verstehe mich nicht miss. Der Kampf gegen Rassismus und Diskriminierung sollte niemals vorbei sein, aber wir führen keinen Krieg. Schon gar nicht gegen die Weltliteratur! Und Gewalt ist keine Lösung. Ein neues Unrecht macht ein bereits geschehenes Unrecht nicht wieder gut und ist keine Rechtfertigung für Selbstjustiz.
Fazit: Percival Everetts „James“ ist ein zutiefst amerikanischer Roman. Eine reine Provokation. Möglicherweise ist es gefährlich, wenn Everett durch "James" zur Selbstjustiz ermutigt, was man durchaus herauslesen könnte. Eine Adaption von Mark Twains „Huckleberry Finn“ ist die Everetts Roman „James“ auf keinen Fall, sondern eine politisch-militante Kampfansage. So gelesen spielt es überhaupt keine Rolle mehr, ob der Autor seine Sache gut oder nicht gut gemacht hat. Dennoch: literarisch ist der Text nur „nett“ und hält keinem Vergleich mit Twains spitzer Feder stand.
Kategorie: Politischer Roman.
Verlag: Hanser, 2024
Ein Buch wie James habe ich glaube ich so noch nie gelesen. Dieses Buch strotzt vor Intelligenz, ohne dabei belehrend oder von oben herab zu wirken. Percival Everett hat mit seiner Sprache eine Geschichte geschaffen, die sich alleine durch die Wortwahl abgrenzt und hängenbleibt. Sprache ist hier nicht nur der Träger der Geschichte, sondern wichtiger Teil von ihr und Jims Identität, das fand ich unfassbar schlau gelöst. Auch durch die Bilder, die er zeichnet, sagt er manchmal in einem einzigen Satz so unglaublich viel, das schaffen manche nicht in einem ganzen Buch. Damit zeigt er uns durch seine Figuren, wie wichtig Sprache, Wissen und Macht eigentlich sind und das fand ich sehr schön.
Ein ganzer Cast von Figuren nimmt uns mit durch den Süden der USA, durch Flucht und Unterdrückung und durch den puren Überlebenswillen unseres Protagonisten Jim. Ich denke wer Huckleberry Finn gelesen hat wird ganz viel Spaß mit diesem Buch haben aber auch für mich, die es nicht gelesen hat war es ein Erlebnis. Die Figuren passen so gut zusammen. Mit James haben wir einen sehr intelligenten und reflektierten Mann, der uns in seinen Kopf lässt und ein Freund und Lehrer ist. Seine Gefühle kommen nie ganz durch, er darf es sich nicht erlauben. Anfangs hat mich das gestört aber im Laufe des Buches schafft es Everett, dass wir an Jims Stelle fühlen und das wirklich tiefgreifend. Und quasi als "comedic relief" daneben Huck, der uns mit seiner kindlichen Unbedarftheit immer wieder vorführt, wie lächerlich die Rassenfrage ist, der einen zum Umdenken und Hinterfragen bewegt.
Der Roman ist unfassbar schnell und in kleinen Abenteuern erzählt. Manchmal passiert vieles sehr schnell, wie Jim bekommen auch die Leser:innen wenig Verschnaufpause. Das muss man wollen. Für mich war es gegen Ende sehr schwer, Dinge einzuschätzen: Wie lange ist er schon unterwegs? Wo genau befindet er sich? Wie sind die Entfernungen? Das hat mich vor allem am Ende etwas gestört. Auch fand ich das Ende etwas übereilt, da hätte ich mir gerne mehr Tiefe gewünscht.
Aber dennoch wird das eine Geschichte sein, über die ich noch lange nachdenken werde, die ich gerne filmisch adaptiert sehen würde und vn der ich ganz viele Denkanstöße und Rechercheaufgaben mitgenommen habe.
Der Sklave James, genannt Jim, soll verkauft werden, was die Trennung von Frau Sadie und Tochter Lizzie bedeuten würde. So beschließt er, zu fliehen und sich zunächst auf einer kleinen Insel im Mississippi zu verstecken. Dort trifft er auf den jungen Huckleberry Finn, der seinen eigenen Tod vorgetäuscht hat, um seinem gewalttätigen Vater zu entkommen. Jim ist sofort klar: man wird ihn verdächtigen, den Jungen ermordet zu haben und so beginnt eine abenteuerliche Reise, die die beiden in mehrere Staaten führen wird.
In „James“ erzählt Percival Everett die Geschichte des Sklaven aus Mark Twains „Die Abenteuer des Huckleberry Finn“ neu und lässt ihn dabei selbst in der Ich-Form zu Wort kommen. Jim und die anderen Sklaven sprechen dabei einen Südstaaten-Slang, den sie nur im Beisein von Weißen verwenden. Dieser soll ihre eigene Intelligenz verbergen und ihre Besitzer in Sicherheit wiegen. Erst gegen Ende des Romans wird Jim bewusst mit dieser Regel brechen. Die Szene ist ungemein beeindruckend, auch wenn in der deutschen Übersetzung diese Sprechweise nicht einfach umzusetzen war - was der Übersetzer in einem Nachwort zur Sprache bringt.
Egal, wohin er und Huck fliehen, die Situation bleibt für Jim doch immer dieselbe – auch wenn sie gerade die Grenze zu einem angeblich „freien“ Staat überschritten haben. Er gerät immer wieder an Menschen, die in irgendeiner Art seine Arbeitskraft ausnutzen wollen. Das Beste, was er dabei erwarten kann, ist keine Gewalt zu erfahren und am Ende des Tages sein Leben zu behalten. In Huck erleben wir den Widerstreit zwischen einem kindlichen Ungerechtigkeitsgefühl und dem Gedanken, dass Jim eben doch anders ist, als er selbst. Dabei wird gerade dieser Junge einer der loyalsten Fürsprecher sein, die Jim unterwegs hat.
Der Roman ist in mehrere Teile gegliedert und ich muss gestehen, dass gerade der erste sich für mich etwas zog und Handlungselemente sich stets wiederholten. Spätestens als Jim sich einer Minstrel Show anschließt, die absurder Weise nur aus weißen Männer besteht, die ihr Gesicht schwärzen, entwickelt der Roman einen gewaltigen Sog. Unbedingt lesen!
(K)ein Abenteuer
Die Abenteuerreise von Huckleberry Finn auf dem Mississippi sind den meisten von uns bekannt. Hier wird die Geschichte neu erzählt, aus Sicht des Sklaven Jim, der sich zusammen mit Huck auf die gefährliche Reise begibt, um seine Familie zu retten. Die Geschichte wird im neuen Gewand erzählt, mit Einblicke und Einzelheiten, die nur aus der geänderten Perspektive heraus erzählt werden können und räumt gleich zu Beginn mit dem Vorurteil des „dummen Sklaven“ auf. Die Schwarzen in Percival Everetts Roman haben gelernt, sich gegenüber ihren „Herren“, den Weißen dumm zu stellen, in einem dazu passenden Idiom zu sprechen und so möglichst einfältig und ungefährlich zu wirken. Ziel ist letztlich nichts anderes als das nackte Überleben. Untereinander sind die Schwarzen nicht weniger klug und – im Hinblick auf James im Besonderen – sogar gebildeter als viele Weiße. Um sich zu schützen achten sie penibel darauf, sich nicht vor den Weißen zu verraten. Selbst im Umgang mit Huck, den Jim zu seinen Freunden zählt, offenbart er sich ihm nicht. Auf ihrer gemeinsamen Reise auf dem Mississippi gen Süden erleben sie Angst, Not und Gefahr, aber auch Freundschaft, Wärme, Hilfsbereitschaft und so manches Abenteuer.
Beide sind sie Außenseiter, beide sind sie klüger und mutiger als andere und gemeinsam machen sie sich auf den Weg, jeder aus seinen eigenen Motiven. Huck flieht vor seinem gewalttätigen Vater, James davor, weil er fürchtet verkauft zu werden. Dabei ist die Flucht für Jim um so viel gefährlicher, muss er doch mit allem rechnen. So kann er jederzeit einfach verkauft, gefoltert oder ermordet werden. Everetts Geschichte liest sich viel ernster und realer, als die Geschichte von Mark Twain, da sie die Gefahren beim Namen nennt. Das Thema Rassismus ist stets präsent im Buch und wird von verschiedenen Seiten aus beleuchtet, wird aber niemals kitschig oder mit dem erhobenen Zeigefinger thematisiert. Als Leser erlebt man die tägliche Gefahr, in die sich die Schwarzen begeben, selbst wenn sie die Anweisungen und Aufgaben ihrer „Master“ befolgen. Dass es dem Autor ein Anliegen war, das Thema intensiv zu beleuchten und darauf aufmerksam zu machen, wird deutlich. Ich finde es ist ihm auch hervorragend gelungen. Gerade weil er eine so bekannte Geschichte genommen hat, liest man das Buch nochmal mit einem anderen Auge und es lässt den Leser nicht mehr los.
Auch die Sprache hat mich bei diesem Buch gefesselt. Sehr nahbar, konkret und ohne Schnörkel, schafft der Autor es dennoch szenisch, atmosphärisch und dicht zu schreiben. Schon sehr bald entsteht eine zunächst unterschwellige Spannung, die sich ausbreitet, anzieht und bis zum Ende anhält. Dazu die vielen Dialoge, die neben dem großen Rassismusthema Bezug auf Gleichheit, Aufklärung und Liberalismus nehmen, lassen den Leser das Buch nicht mehr aus der Hand legen. Besonders zu erwähnen ist der deutsche Übersetzer Nikolaus Stingl. Wie es ihm gelungen ist, neben der regulären Übersetzungsarbeit noch das ganz eigene Idiom der Schwarzen hier so einprägsam zu übersetzen, ist eine Meisterleistung und sollte entsprechend gewürdigt werden.
So wie Marc Twains Roman in seiner Zeit eine Kritik an der Sklaverei war, so ist es „James“ von Percival Everett heute. Ein kraftvolles Buch, das mich gefesselt, begeistert und auf allen Ebenen beeindruckt hat.